Домой United States USA — mix Wie Corona die europäische Idee gefährdet

Wie Corona die europäische Idee gefährdet

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Vier Brücken verbinden Kehl und Straßburg – Symbole der Freundschaft. Im Frühjahr wurden sie geschlossen. Ein Besuch im deutsch-französischen Grenzgebiet.
Einst rollten Panzer über diese Brücke, heute ist es ein altes französisches Ehepaar in einem Citroen. Es ist ein Tag im November, gerade hat die französische Regierung eine Ausgangssperre verhängt. Nur wer einen triftigen Grund nennen kann, darf sich draußen aufhalten. In Deutschland ist das anders, darum will das Ehepaar von Straßburg aus über die Pont de l’Europe ins deutsche Kehl. Keine große Sache, in normalen Zeiten. Doch heute steht am Ende der Brücke ein Bundespolizist mit Kelle. Der Mann am Steuer bremst und fährt das Fenster herunter. „Wo soll’s denn hingehen?”, fragt der Polizist. „Wandern im Schwarzwald!“, sagt der Mann mit schwerem französischem Akzent. „Das können wir von der deutschen Polizei Ihnen zwar nicht verbieten, aber Sie wissen vielleicht, dass für Sie in Frankreich eine Ausgangssperre gilt? Wenn die französischen Kollegen sie bei der Wiedereinreise erwischen, bekommen Sie eine Strafe.“ „D’accord“, sagt der alte Franzose im Citroen. Dann rollt er sein Fenster hoch und fährt davon, raus aus Frankreich, rein nach Deutschland, im Rückspiegel die Grenze. Die Grenze? Vier Brücken sind es, die Straßburg und Kehl verbinden, die französische Groß- und die deutsche Kleinstadt. Die erste Rheinbrücke bauten die Römer, es folgten viele weitere und so oft eine entstand, so oft wurde sie von einem der beiden Anrainer wieder gesprengt, versenkt, zerstört. Nun herrscht Frieden, seit 75 Jahren. Jetzt, Anfang Dezember, ist die Ausgangssperre in Frankreich gerade etwas gelockert, doch schon wird vielerseits wieder über Grenzschließungen debattiert. „Labor Europas“, so nennt sich die Region. Versuchsaufbau: Freundschaft zwischen alten Feinden. Wer würde da von einer Grenze sprechen? Kehl und Straßburg können nur gemeinsam gedacht werden Es war im März, als Polizisten auf den Kehler Brücken Zäune errichteten. Ziel: Virenabwehr. Ein Zaun auf einer Brücke, das ist der symbolische Super-Gau, aber es blieb nicht bei Symbolik. Die länderverbindende Tram musste den Betrieb einstellen, die Bundespolizisten kontrollierten jedes Auto, das über die Pont de l’Europe herüber gefahren kam und ließen nur noch durch, wer einen Passierschein vorzeigen konnte. Plötzlich war sie wieder da, die Grenze, die eigentlich nicht mehr existieren sollte. Und im Labor Europas startete eine Kettenreaktion mit ungewissem Ausgang. Kehl und Straßburg, zwei Städte, die nur gemeinsam gedacht werden können, so sieht das jedenfalls der Bürgermeister der Stadt Kehl. Toni Vetrano sitzt in seinem Büro im rosarot getünchten Rathaus der Stadt, ein großer Mann im blauen Anzug, der weiße Schnurrbart hebt und senkt sich, wenn er spricht. Vetrano hat selbst schon ein paar Grenzen überwunden, er wurde auf Sizilien geboren, in Caltabellotta am Südrand der Insel. „Von da ist Tunis näher als Rom“, sagt er und man kann sich ausrechnen, wie weit der Weg dann erst ins Kehler Rathaus war, als Gastarbeiterkind. „Grenze“, sagt Vetrano, „dieses Wort vermeide ich, wo es irgendwie geht.“ Er sagt: gemeinsamer Lebensraum. Eine große Zahl Franzosen lebt dauerhaft in Kehl, etliche pendeln täglich herüber, um in Krankenhäusern, Supermärkten und an Tankstellen zu arbeiten. Andersrum arbeiten viele Deutsche in Straßburg. Direkt am Rhein gibt es eine deutsch-französische Kinderkrippe, genauso wie ein gemeinsames Löschboot der Feuerwehr. Franzosen und Deutsche lieben sich, bekommen Kinder und lassen sich scheiden. Es ist nicht lange her, da lagen die Menschen auf beiden Rheinseiten im Krieg, mehrfach und unerbittlich. Als die Alliierten 1944 Frankreich von den Nazis befreiten und gerade dabei waren, Straßburg zu erobern, führten Gestapo-Schergen aus Kehl neun französische Widerstandskämpfer ans Rheinufer, töteten sie per Genickschuss und warfen sie in den Fluss. Heute fährt die Straßenbahn nach Frankreich direkt vor dem Kehler Rathaus ab. Kehler besuchen damit die Straßburger Oper, das Europäische Parlament. Wer aus Straßburg nach Kehl kommt, tut das eher nicht wegen des kulturellen Angebots, wegen der günstigeren Zigaretten und Windeln aber schon. Auf der deutschen Seite sprießen Tabakläden und Drogerien. Glücksspiel, in Frankreich verboten, boomt in Kehl, mehr als 30 Casinos gibt es hier, die Einnahmen füllen die Kassen der klammen Stadt. Beide geben, keinem wird genommen, das war das Fundament dieser Freundschaft.

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