Der Sondergipfel der EU soll am Sonntag den Scheidungsvertrag mit Großbritannien abhaken. Kurioserweise wird für Premierministerin Theresa May das Ja der 27 EU-Partner leichter zu haben sein als eine Zustimmung im eigenen Unterhaus.
Sir Graham Brady ist eigentlich ein Hinterbänkler im britischen Parlament. Doch seit Tagen hat er keine ruhige Minute mehr. Ob im Londoner Parlament oder an der Supermarktkasse im heimischen Nordwesten Englands, der konservative Abgeordnete wird unaufhörlich belagert mit einer Frage, die mittlerweile das ganze Königreich beschäftigt: Wie viele Briefe hat er bislang erhalten?
„Das sage ich noch nicht mal meiner Frau“, entgegnete er jüngst einer Schar von Reportern.
Brady sitzt dem Komitee vor, das über ein Misstrauensvotum der Konservativen gegen die eigene Premierministerin entscheidet. Wenn Brady genug Briefe hat, könnte Theresa Mays Karriere schnell zu Ende sein. Um den Antrag im Parlament zu stellen, müssen sich 15 Prozent der konservativen Abgeordneten schriftlich bekennen – was auf 48 Briefe hinausläuft. Wie viele bereits eingegangen sind, gilt derzeit als das am besten gehütete Geheimnis auf der Insel. Die jüngsten Vorhersagen aber lauten: Die Sache zieht sich hin.
Londons Konservative sind vorsichtig geworden. Manche warnen, May würde einen offenen Machtkampf innerhalb der Fraktion noch einmal gewinnen. Niemand wolle ja derzeit ernsthaft ihren Job. Und niemand wolle Neuwahlen, aus denen am Ende der Sozialist Jeremy Corbyn von der Labour Party als Gewinner hervorgehen könne. Da zudem ein Misstrauensvotum nur einmal pro Jahr stattfinden kann, wäre Mays Position, wenn sie es gewinnt, unterm Strich sogar gefestigt.
Also warten derzeit sogar die Missgünstigen noch ab. Warum, fragen manche, soll man May schon vorab meucheln, wenn sie doch spätestens im Dezember spektakulär scheitern wird, bei der Abstimmung des britischen Unterhauses über den von ihr ausgehandelten Scheidungsvertrag mit der EU?
May, so viel steht fest, ist in einem Minenfeld unterwegs. Wann und wo allerdings die Ladungen hochgehen, wird sich erst zeigen.
Einstweilen gibt sich die Regierungschefin völlig unbeeindruckt von den rundherum lauernden Bedrohungen. In immer neuen Fernsehinterviews, Reden und Zeitungsartikeln wirbt May unentwegt für den 585-seitigen Kompromiss, der ihrer Ansicht nach den „bestmöglichen Deal“ darstellt. Vor dem EU-Sondergipfel am Sonntag wandte sie sich in einem Brief erneut an die Öffentlichkeit.
Zuvor sprach sie auch beim britischen Industrieverband CBI. Den Firmenchefs stellte sie ein neues Einwanderungssystem in Aussicht, das sich May zufolge endlich nach den Fähigkeiten der Bewerber richten werde und nicht danach, woher die Menschen stammen. Künftig könnten sich EU-Bürger nicht mehr „in der Schlange vordrängeln vor Ingenieuren aus Sydney oder Software-Entwicklern aus Delhi“.
Da nickten die Industriechefs und spendeten sogar Beifall – für May war es eine hochwillkommene Szene, wie sie selten erlebt hat in letzter Zeit.
Noch mehr gefielen ihr die warmen Worte, die Industriechef John Allan an diesem Tag für den von ihr mit Brüssel ausgehandelten Entwurf für den Scheidungsvertrag fand.