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Seenotrettung mit der "Sea Watch 4" – "Aus der Komfortzone gerissen"

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An Bord der ‘Sea-Watch 4’ waren alle Menschen gleich. Wieder an Land kehrt die Journalistin Constanze Broelemann zurück in ihr Leben. Das Schicksal der Geretteten lässt sie nicht los.
An Bord der “Sea-Watch 4″ waren alle Menschen gleich. Wieder an Land kehrt die Journalistin Constanze Broelemann zurück in ihr behütetes Leben. Doch das Schicksal der Geretteten lässt sie nicht los. Diese Reportage erschien zuerst auf chrismon.de. Am frühen Morgen des 20. September 2020 ging ich von Bord der ” Sea-Watch 4″. Giuseppe vom Schiffsmanagement holte uns mit einem Auto ab und fuhr uns bis vor die Tore des Industriehafens von Palermo. Ich verabschiedete mich. Vier Wochen hatte ich mit Nora, Arnaud, Jonas und all den anderen auf der Sea-Watch eine intensive Zeit erlebt. Noch im August hatte ich am Hafenkai des spanischen Burriana mit Aktivistin Nora auf Holzpaletten gesessen und über den Sinn von Nationalstaaten diskutiert. Arnaud hatte mir gesagt: “Wenn du einmal das hier siehst, einmal aussteigst aus dem Spiel, dann gibt es kein Zurück mehr.” Er selbst hatte vor Jahren mit seiner Familie ein griechisches Flüchtlingslager besucht, dann seinen gut bezahlten Job in Paris aufgegeben und war ans Meer gezogen: um Menschenleben zu retten. Und Jonas hatte mir bei einem abendlichen Bad im Mittelmeer geraten: “Am besten, du machst an Bord mit, wenn du die Leute besser kennenlernen willst.” Eigentlich war ich als Journalistin dabei. Aber ich packte mit an, so gut ich konnte. In den Nachrichten sah man Menschentrauben auf Schlauchbooten, Köpfe, die aus Schwimmwesten ragen, auf den Wogen, Gerettete auf den Holzdielen der “Sea-Watch 4”. Ich lernte ihre Geschichten kennen. Die der 26-jährigen Cisse Amirata, sie war mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn Ali – wie alle anderen – aus einem überfüllten Gummiboot gerettet worden. Der Kleine war der Sonnenschein auf dem Achterdeck. Cisse hatte sich von der Elfenbeinküste aufgemacht. Sie erreichte uns mit Zeichen schwerer Verbrennungen an ihrem Körper, Wundmale der Folter in Libyen. Heimlich trat ich ihr meine Bodylotion ab. Ich hätte sie nicht bevorzugen dürfen, die Crew sollte alle gleich behandeln. Christian Tschabon, ein junger Kameruner, zeigte mir stolz seinen USB-Stick, den er am Handgelenk trug. Er erzählte mir, dass er in Europa unbedingt weiterstudieren wolle. Dawda aus Ghana konnte nicht mal lesen und schreiben, weil die Familie kein Geld für seine Ausbildung hatte. Via Smartphone hatte er sich ein wenig Deutsch beigebracht. Fußball und Reggae waren seine Leidenschaft. Dawda wollte in den deutschen Profifußball einsteigen. Nun waren wir alle an Land. Die Beamten der italienischen Küstenwache hatten Cisse Amirata, Ali, Christian Tschabon, Dawda und alle anderen Geretteten bereits zwei Wochen zuvor auf ein Quarantäneschiff gebracht. Wir wussten nicht, wo genau sie jetzt waren. Mittlerweile mussten auch sie europäischen Boden betreten haben. Einigen hatte ich mein Facebook -Profil genannt. Sie sollten sich wieder bei mir melden. Ich wollte wissen, wie es für sie weitergeht – ohne den Schutzraum der “Sea-Watch 4”. An Bord hatte die Crew sehr darauf geachtet, dass alle gleich behandelt werden. An Land würde das so nicht mehr sein. An Bord galten Regeln der Fairness: Die Geretteten mussten ihre Habseligkeiten wie Handys und Zigaretten abgeben. Also durfte auch die Besatzung keine Getränke mit Kohlensäure trinken, die Handys nicht hervorholen, nicht rauchen – zumindest im Beisein der Geretteten hielten wir uns daran. Schon im Hafen von Palermo faszinierte mich der kulturelle Mix. Jede Kirche, jedes historische Gebäude erzählt von der Brücke, welche die Hafen- und Handelsstadt seit Jahrtausenden zwischen Afrika und Europa bildet. Ich bezog ein Airbnb-Zimmer in einem Ausländerviertel in der Via Maqueda. Im Nu war ich wieder eine weiße Europäerin. Ich begegnete Afrikanerinnen und Afrikanern eigentlich nur noch zufällig. Die meisten schlugen sich irgendwie durch. Eines Abends sah ich eine Gruppe junger Schwarzer am Rand eines Parks, benebelt von Rauschmitteln. Sie hingen auf ausrangierten Bürostühlen herum. An die Mauer neben ihnen war ein schwarzer Kopf gesprayt: “No racism”. Viele italienische Aktivisten setzten sich für ihre Rechte ein. Für andere Sizilianer sind Afrikaner unerwünscht, bringen sie in ihren Augen doch nichts als Probleme. Ich hörte von Prostitution und afrikanischen Bandenchefs, die ihre Landsleute verkauften und in die Kriminalität zwingen. Meine Vermieterin in der Via Maqueda, eine gebildete Frau, warnte, dass Flüchtlinge angeblich Covid-19 einschleppten. Manchmal nahm ich die einheimische Perspektive hin. Manches rief auch heftigen Widerstand in mir hervor. Ich wusste ja, wie gewissenhaft die Geretteten an Bord der “Sea-Watch 4” ihre Masken angelegt, wie sie ihre Hände desinfiziert hatten. Die weißen Italiener an Land nahmen die Vorsichtsregeln gegen Covid-19 weniger ernst. Während ich nach Cisse, Ali, Christian, Dawda und all den anderen suchte, sah ich in irgendeiner Seitengasse in Palermos Altstadt eine Ghanaerin an einer Nähmaschine inmitten von afrikanischen Stoffen. Ein Bild hinter ihr zeigte das schweizerische Matterhorn.

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