Erstmals wird das Afghanistan-Debakel im U-Ausschuss öffentlich diskutiert. Doch das Gremium läuft Gefahr, zahnlos zu werden.
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
vor etwa einem Jahr berichtete ich Ihnen hier im Tagesanbruch über zwei junge Afghaninnen. Damals, wie auch noch viele Monate danach, lebten sie in Verstecken, oft in Kellern oder abgedunkelten Räumen. Ende Juli kam die erlösende Nachricht: Sie wurden nach Deutschland evakuiert.
Nun leben sie in einem kleinen Asylwohnheim im ländlichen Nordrhein-Westfalen, in dem ich sie kürzlich besucht habe. Drumherum stehen drei Einfamilienhäuser, umgeben von Feldern und Wald. Die beiden lachen, als sie erzählen, dass es in dem nahegelegenen Ort nur drei Supermärkte gibt. Der Kontrast zu Kabul – er könnte kaum größer sein. Aus Rücksicht auf ihre in Afghanistan verbliebene Familie möchten sie ihre Namen nicht veröffentlicht sehen, deswegen heißen sie hier – wie vor einem Jahr auch – Hila und Samila Haidari. Rund 25 Quadratmeter haben die beiden Frauen nun für sich. “Unser letztes Zimmer in Kabul war nicht einmal ein Drittel so groß”, sagte Samila. Wichtiger aber als die Größe war ihr etwas anderes: die Fenster. “Die stehen jetzt immer offen.”
Die beiden haben über das Ortskräfteverfahren ein Visum erhalten – nicht, weil sie für die Bundesregierung oder eine deutsche Organisation arbeiteten, sondern weil sie zu einem besonders gefährdeten Teil der Zivilgesellschaft gehörten: Eine Schwester arbeitete als Journalistin, die andere, eine Jura-Studentin, setzte sich für Frauenrechte ein. Vor einigen Tagen haben sie ihren ersten Deutschkurs begonnen und hoffen, bald so gut zu sein, dass sie arbeiten und weiter studieren können.
Hila und Samila gehören laut Bundesinnenministerium zu den mehr als 23.000 Menschen, also Ortskräften und besonders Gefährdeten sowie deren engeren Familienmitgliedern, die seit dem Fall Kabuls nach Deutschland evakuiert wurden. Dafür war nicht nur die Bundesregierung verantwortlich: Auch nicht-staatliche Hilfsorganisationen leisteten einen beträchtlichen Teil und holten auf eigene Faust Menschen aus dem Land. Doch viele, die eine Aufnahmezusage haben, sind noch immer dort, laut Bundesregierung wurden erst mehr als zwei Drittel evakuiert. Hilfsorganisationen kritisieren, dass die Aufnahmezusagen viel zu zögerlich ausgegeben wurden.
Das Chaos um den Abzug aus Afghanistan, das Drama, das sich auf dem Flughafen der Hauptstadt abspielte, die langsame, bis heute nicht abgeschlossene Evakuierung von Ortskräften: All das wird derzeit in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet, dessen erste öffentliche Sitzung heute stattfindet. Diese U-Ausschüsse gelten gemeinhin als Orte, in denen es heiß hergeht, in denen Fehler aufgearbeitet und schonungslos benannt werden. Normalerweise. Ausgerechnet in diesem Fall aber könnte es anders laufen.
Der Vorsitzende des Ausschusses, Ralf Stegner, kündigte nämlich bereits an, es gehe nicht in erster Linie darum, “Schuldige” zu benennen, sondern, dass die Fehler sich in Zukunft nicht wiederholen. Ein weiteres Ziel sei auch, die aktuelle humanitäre Situation in Afghanistan ins Blickfeld zu rücken. Das ist natürlich ehrenhaft. Doch um die humanitäre Situation ins Blickfeld zu rücken, braucht es keinen U-Ausschuss. Und um die Vermeidung künftiger Fehler kümmert sich bereits eine Enquete-Kommission, die neben Politikern auch aus Wissenschaftlern besteht.
Beim Abzug aus Afghanistan traf das Kabinett aus Union und SPD die Entscheidung – die heutige größte Oppositionsfraktion und die größte Regierungspartei. In einem Papier zum U-Ausschuss wirft das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) dazu zwei entscheidende, offene Fragen zum Verlauf des Ausschusses auf. Erstens: “Es bleibt abzuwarten, wie sehr Union und SPD einen Nichtangriffspakt schließen nach dem Schema ‘Schont Ihr Merkel, schonen wir Maas.'” Und zweitens: “Zeigen muss sich zudem, ob Grüne und FDP aus Rücksicht auf die SPD auch Nachsicht mit der Union demonstrieren werden.”
Sollten sich die Parteien nun tatsächlich aus Angst vor Gesichtsverlust und Rücksichtnahme zurücknehmen, begehen sie nicht nur einen gravierenden Fehler – sie verpassen auch eine einmalige Chance.
Denn dieser Untersuchungsausschuss ist nicht nur das erste offizielle Gremium, in dem das Afghanistan-Debakel minutiös aufgeklärt werden soll.