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Exklusiv-Interview mit Kardinal Marx: „Ich glaube, ich habe mich entwickelt“

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Reinhard Marx spricht im Exklusiv-Interview über den Ukraine-Krieg und Migration, äußert sich aber auch zu Missbrauch und nötige Kirchenreformen.
Erstellt: 24.12.2022, 06:21 Uhr
Von: Claudia Möllers, Georg Anastasiadis
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Reinhard Marx spricht im Exklusiv-Interview über den Ukraine-Krieg und Migration, äußert sich aber auch zu Missbrauch und nötige Kirchenreformen.
Weihnachten ist in diesem Jahr ein Fest mit vielen Herausforderungen: weltpolitisch mit dem Krieg in der Ukraine, innenpolitisch mit den Sorgen um die Energieversorgung, kirchenpolitisch mit der Missbrauchs- und Reformdebatte. Gibt es trotzdem Hoffnung? Wir sprachen darüber mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx.
Herr Marx, von friedlicher Weihnacht sind wir mehr entfernt, als wir es uns vor einem Jahr vorstellen konnten. Putins Krieg gegen die Ukraine wird unerbittlich geführt. Welche Hoffnungsbotschaft hat die Kirche?
Dass der Krieg nicht das letzte Wort hat! Ich bin erschüttert darüber, wie lange er dauert und wie brutal er ist. Im Augenblick kann ich nicht erkennen, wie das zu Ende gehen soll. Ich weiß nur: Es wird zu Ende gehen. Unvorstellbar ist, dass der Krieg über Jahre dauert. Aber der Weg wird schwieriger sein, als man es sich zu Beginn vorgestellt hat. Jeder Krieg ist eine Niederlage der Menschheit, hat Papst Johannes Paul II. gesagt.
Können Sie erklären, warum Papst Franziskus eine so klare Erklärung lange nicht abgegeben hat?
Er hat schon deutlich gemacht, dass dieser Krieg ein Übel ist. Er hat auch vom ungerechtfertigten Angriff gesprochen, aber es war etwas zurückhaltend. Ich konnte vor ein paar Tagen mit ihm sprechen. Ich habe den Eindruck, dass die Diplomatie des Heiligen Stuhls doch noch irgendein Türchen offenhalten will, um einen Gesprächsfaden zu suchen, auch zur russischen Orthodoxie. Irgendwann muss es Gespräche geben. Wer soll dann reden? Wer fängt an? Da könnte auch der Vatikan in den Blick kommen.
Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill unterstützt Putins Krieg. Was ist das für eine unheilige Allianz?
Das ist erschreckend! Kyrills Haltung ist ein Missbrauch der Religion. Alle anderen christlichen Kirchen haben das deutlich gesagt. Aber spricht Kyrill für die gesamte russische Orthodoxie? Ich bin überzeugt, dass es dort auch andere Stimmen gibt, die sich jetzt nicht äußern können. Zu ihnen muss man den Kontakt halten für die Stunde, die kommen wird. Wir sollten nicht alle Christen der russisch-orthodoxen Kirche verurteilen.
Auch bei uns geraten durch Putins teuflischen Überfall Menschen in die Armut – vor allem Rentner und Alleinerziehende. Was kann Kirche da tun?
Wir haben im Erzbistum ein kleines Zeichen gesetzt. Wir helfen mit zusätzlichen 4,6 Millionen Euro denen, die besonders in Not sind. Das läuft über Hilfsfonds des Erzbistums und die Caritas. Das Geld stammt aus Mehreinnahmen in der Kirchensteuer, die sich aus der im September ausgezahlten Energiepreispauschale ergeben. Es wird Menschen geben, die unverschuldet in ziemlich prekäre Verhältnisse kommen. Da müssen eine Gesellschaft und wir als Kirche zeigen, dass wir solidarisch sind.
Was ist Christenpflicht?
Aufmerksam zu sein! Auf seine Nachbarschaft, seine Nächsten achten. Wir als Institution halten auch die Augen und Ohren offen: Die Caritas ist vor Ort! Sie sollte hinschauen, und dann muss man etwas tun.
Es kommt eine neue Flüchtlingswelle auf uns zu. Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, sagt, wir müssen Zäune bauen, um uns zu schützen. Was halten Sie davon?
Zäune sind nicht die erste Antwort. Wir haben das 2015/16 ja erlebt, auch wenn wir heute eine ganz andere Situation haben. Wir haben eine Million ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Das ist bislang relativ problemlos gegangen, es sind sehr viele privat untergekommen. Jetzt suchen sie eine Bleibe auf Dauer – und wollen nicht in Turnhallen untergebracht werden, was ich verstehe. Das ist ein großer Druck, weil auch andere Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Mittelmeeranrainer, aus Syrien, aus Afghanistan, aber auch aus Russland dazu kommen.
Was muss passieren?
Ein geregeltes Verfahren ist weiterhin notwendig. Jeder, der zu uns kommt, hat ein Recht auf die Prüfung, ob er berechtigt ist, einen Asylantrag zu stellen. Und wenn er ihn stellen kann, dann bleibt er hier. Wir sind ein Rechtsstaat, es gelten Gesetze. Die Situation an der Grenze etwa in Griechenland können wir nicht hinnehmen. Das ist unwürdig. Da können wir nicht sagen: Das geht uns nichts an, da machen wir einen Zaun und kümmern uns nicht weiter. Ich kenne Manfred Weber, er hat sich doch etwas differenzierter geäußert. Er spricht sich wohl aus für Verstärkung der Kontrollen an den Außengrenzen und funktionierende Solidarmechanismen.

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