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Liberalismus-Debatte: Freiheit ist anstrengend

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Verfall der Werte? Individualisierung des Glücks? Ein Essay zur Debatte um Identitätspolitik und die Kritik von Dobrindt und Gabriel am postmodernen Liberalismus.
Feinde zu haben, kann eine Auszeichnung sein. Wenn sich aber Freund und Feind zum Angriff verbünden, wird es ernst. So geht es dem postmodernen Liberalismus gerade. Die Angriffe von außen, die revanchistischen Attacken der neuen Rechten, der neuen Konservativen und der Populisten auf die freiheitliche, plurale Gesellschaft, werden begleitet von Selbstzweifeln und Autoaggression. In Amerika und Frankreich wird die Debatte schon länger in der breiteren Öffentlichkeit geführt. Neuerdings lässt sich das Phänomen des Zangenangriffs auch in Deutschland beobachten.
Kürzlich sind zwei Gastbeiträge von deutschen Politikern erschienen, die geradezu exemplarisch dafür stehen. Da ist zum einen der „Welt“-Gastbeitrag von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Dessen Kritik zielt auf eine Gesellschaft, die sich aus seiner Sicht zu viele Freiheiten in ihrer Werteordnung und zu wenige in ökonomischer Hinsicht leistet. Der CSU-Politiker wendet sich gegen „linke Ideologien, sozialdemokratischen Etatismus und grünen Verbotismus“ in Deutschland. Auch 50 Jahre nach ’68 würden linke Ideologien vorherrschen, weil „Schlüsselpositionen in Kunst, Kultur, Medien und Politik“ in der Hand elitärer „Volkserzieher“ seien.
Dobrindt konstatiert, in Wahrheit gebe es eine bürgerliche Mehrheit, deren Meinungen und Wertvorstellungen missachtet würden. Den Pluralismus der 68er und ihrer Erben hält er für heuchlerisch: Ihr „Kampf um Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Toleranz gilt allen, nur ihnen nicht.“ Er fordert eine „konservative Revolution der Bürger“ und entwirft einen Gegenkosmos aus christlich-abendländischer Leitkultur, Betonung der klassischen Familie sowie Heimat- und Vaterlandsverbundenheit.
Bereits kurz vor Weihnachten erschien im „Spiegel“ ein Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, der aus anderer Perspektive Kritik am postmodernen Liberalismus äußert. Auch der Ex-SPD-Chef diagnostiziert fundamentale gesellschaftliche Zerfallsprozesse: Wenig sei übrig von der solidarischen Gesellschaft. Individualisierte Lebensvorstellungen seien prägender als früher. Gabriel kritisiert ein Übermaß an Postmoderne mit ihrem Versprechen von Individualität, Vielfalt, Freiheit und Wohlstand und fordert eine neue Fokussierung der Politik auf das Soziale.
Beide Texte sind Ausdruck eines tiefen Unbehagens mit dem postmodernen Liberalismus. Im Zentrum steht die Kritik an der Dekonstruktion festgefügter Wertesysteme.
Michel Foucault, Judith Butler, Jacques Lacan und andere Vordenker der Postmoderne widmeten ihre Schriften der Analyse bestehender Diskurse. Ihr Ziel war es, aufzuzeigen, dass die Regeln, die diese Diskurse bestimmen, nicht naturgegeben sind, sondern historisch bedingt und dass sie verändert werden können; dass etwa auch das biologische Geschlecht oder das Begriffspaar „gesund – krank“ auf menschlichen Definitionen beruht, ebenso wie die Hierarchien, die darauf aufbauen.
Was daraus folgte, werten Liberale als Fortschritt. Kritiker hingegen beschreiben die Entwicklung als eine Bewegung, die den Vorschlaghammer an eine Werteordnung angesetzt hat, ohne aus den Trümmern ein neues, stabiles Gebäude zu errichten.

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