Home United States USA — mix "Ich hasse mein Leben"

"Ich hasse mein Leben"

207
0
SHARE

Gewalt, Angst und Geldsorgen bestimmen ihr Leben: Sozial benachteiligte Kinder und Familien kämpfen unter erschwerten Voraussetzungen mit der Pandemie. Die Einrichtung “Die Arche” versucht zu helfen, stößt jedoch an ihre Grenzen.
Gewalt, Angst und Geldsorgen bestimmen ihr Leben: Sozial benachteiligte Kinder und Familien kämpfen unter erschwerten Voraussetzungen mit der Pandemie. Die Einrichtung “Die Arche” versucht zu helfen, stößt jedoch an ihre Grenzen. Heute ist Porserins Lieblingstag der Woche. Die Neunjährige sitzt an einem Holztisch in der Arche in Berlin-Hellersdorf, als eines von nur 15 Kindern, die an diesem Tag in das ehemalige Schulgebäude kommen dürfen. Mit dem Ellenbogen auf dem Tisch gelehnt, streicht sie ihre langen Haare zurück. Schwarze Wimpern umranden ihre hellblauen Augen, die über ihrer Medizinmaske neugierig hervorschauen. Sie blickt durch den halb leeren Raum. Früher war sie fast jeden Tag in der Arche, jetzt darf sie nur noch einmal die Woche kommen. “Wegen Corona”, sagt sie und zuckt mit den Achseln. Für Porserin bedeutet das: viel zu Hause sein, viel allein sein. “Im ersten Lockdown schien die Sonne noch, mit dem zweiten kamen die Wolken und die frühe Nacht. Das schlägt aufs Gemüt”, sagt Bernd Siggelkow. Der Pastor hat 1995 in Berlin-Hellersdorf die erste Arche gegründet, ein Hilfswerk gegen Kinderarmut. Mittlerweile gibt es landesweit 27 Einrichtungen. Vor der Pandemie betreute er rund 350 Kinder in der Zentrale in Hellersdorf, jetzt sind es nur noch 150, weil die Gruppen verkleinert werden mussten. Jedes Kind darf nur noch alle 10 bis 14 Tage kommen. “Für die Kleinen ist das eine lange Zeit”, sagt Siggelkow. Er ist für viele dort der Ersatzpapa, der zuhört, wenn es kein anderer tut. Für Porserin ist die Arche der letzte Ort, an dem sie noch mit ihren Freunden spielen kann. Zwar darf sie seit Anfang der Woche wieder in die Grundschule gehen. Normalität kehrt deswegen aber noch nicht zurück. Zu Hause sei sie oft stundenlang mit ihren drei Brüdern allein, ihre Eltern müssen arbeiten. Der Kleine ist 6, die anderen 15 und 16 Jahre alt. “Wir haben richtig viele Probleme und kommen nicht allein klar”, erzählt sie. Kochen habe sie von ihrer Mutter gelernt, Salat und Nudeln könne sie schon machen, nur auf den Herd muss sie noch aufpassen, wegen der langen Haare. Manchmal geht sie mit ihren Brüdern raus, läuft rum, “mehr kann man nicht machen”. Außerdem passe sie auf, dass die Klamotten nicht dreckig werden. “Meine Mutter kann zurzeit nicht alle unsere Sachen waschen.” In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Für sie ist die Lage besonders angespannt. Meist wohnen sie mit ihren Geschwistern und Eltern in kleinen, günstigen Wohnungen mit wenig Platz. In dem Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist dazu die Zahl der Alleinerziehenden mit 40 Prozent in der Hauptstadt am höchsten. Siggelkow beschreibt die Situation als dramatisch: Kinder sind immer abgehängter in Gesellschaft und Schule, Eltern sind mit mehreren Kindern alleine überfordert, nicht selten kommt es zu Gewalt. Im zweiten Lockdown sei es noch schlimmer geworden. “Wir machen nur noch Schadensbegrenzung.” Dass die Pandemie Kindern und Jugendlichen zusetzt, zeigten schon zahlreiche Untersuchungen aus dem ersten Lockdown. Forscher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) befragte in ihrer “Copsy-Studie” im Mai und Juni 1500 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren mit alarmierendem Ergebnis: 71 Prozent der Kinder fühlen sich psychisch belastet, sind ängstlicher, schneller gereizt oder niedergeschlagen und machen sich mehr Sorgen.

Continue reading...