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Wirecard-Skandal: Alle sehen sich als Opfer ¦ NZZ

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Der Fall des insolventen deutschen Zahlungsdienstleisters Wirecard hat weitreichende Folgen. Bisher mussten die Chefs der Finanzaufsicht Bafin, der «Bilanzpolizei» DPR und von EY Deutschland ihre Posten räumen. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags erreichte mit der Befragung von Bundeskanzlerin Merkel das politische Finale.
Der Fall des insolventen deutschen Zahlungsdienstleisters Wirecard hat weitreichende Folgen. Bisher mussten die Chefs der Finanzaufsicht Bafin, der «Bilanzpolizei» DPR und von EY Deutschland ihre Posten räumen. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags erreichte mit der Befragung von Bundeskanzlerin Merkel das politische Finale. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird vom Wirecard-Untersuchungsausschuss befragt. Die neusten Entwicklungen Wie gravierend ist der Finanzskandal und wie geht es weiter? Gut 11 500 Gläubiger des insolventen Zahlungsdienstleisters Wirecard haben Forderungen in Höhe von über 12 Milliarden Euro angemeldet. Das teilte das Münchner Amtsgericht am 18. November 2020 nach der ersten Gläubigerversammlung mit. Damit übersteigen die angemeldeten Forderungen die bisher erzielten Erlöse bei der Abwicklung des Konzerns erwartungsgemäss um ein Vielfaches. Die hohe Summe erklärt sich daraus, dass neben geschädigten Banken, Investoren und Geschäftspartnern auch viele Aktionäre Schadenersatzforderungen angemeldet haben. Aktionäre sind rechtlich betrachtet keine Gläubiger, sondern Gesellschafter – als solche gehen sie bei Insolvenzverfahren häufig leer aus. Wenn es sich jedoch wie bei Wirecard um einen grossen Betrugsfall handelt, können Aktionäre Schadenersatzforderungen anmelden. Ende August hatte der Insolvenzverwalter Michael Jaffé dem Amtsgericht München einen Bericht über die finanzielle Lage des Unternehmens vorgelegt. Einige deutsche Medien hatten Einblick in das nicht veröffentlichte Gutachten erhalten. Die Bilanz ist offenbar ein wahres Desaster: Seit Jahren hatte die Firma Geld der Anleger faktisch verbrannt, in den letzten Monaten waren es wöchentlich etwa 10 Mio. €. Nur wenige der weltweit über 50 Firmen des Konzerns hatten überhaupt eigene Einnahmen. Entgegen den ausgewiesenen Gewinnen hatte Wirecard seit Jahren hohe Verluste geschrieben. Damit wird klar, dass der Zahlungsdienstleister im Prinzip nur von den Geldern der gutgläubigen Investoren und der Banken gelebt hatte. Dabei hat man offenbar dreistellige Millionenkredite aufgenommen oder sich die Gelder über Kapitalbeteiligungen (beispielsweise bei Softbank) beschafft. Nach der Pleite fand der Insolvenzverwalter auf den verfügbaren Konten nur noch 26,8 Mio. €. Dieses kleine Sümmchen in der Bilanz steht einem Schuldenberg von 3,2 Mrd. € gegenüber. Die Liquiditätslücke beträgt 99,17%. Unter dem Strich bleibt nach dem Abzug der Vermögenswerte von gut 420 Mio. € – wenn sie denn überhaupt verwertet werden können – ein Minus von 2,8 Mrd. € in der Bilanz. Nach Ansicht von Jaffé hat Wirecard damit keinerlei Chance, in irgendeiner Form zu überleben. Der Insolvenzverwalter versucht deshalb, zu verwerten, was noch zu verwerten ist. So geht das Kerngeschäft von Wirecard an die spanische Grossbank Banco Santander. Die Spanier würden Technologie und Geschäftsbetrieb übernehmen, der Grossteil der Mitarbeiter könne somit weiterbeschäftigt werden, teilte Jaffé Mitte November 2020 mit. Rechtlich würden keine Wirecard-Gesellschaften übernommen, betonte Santander. Die Bank übernehme auch keine rechtlichen Risiken des Konzerns. Mit der Akzeptanz und Herausgabe von Kreditkarten stärke Santander die eigene Bezahltochter Getnet, sagte Verwaltungsratschefin Ana Botin. Mitte Dezember folgte die Veräusserung der Tochtergesellschaft Wirecard Solutions South Africa an Südafrikas grössten unabhängigen Zahlungsdienstleister, Adumo RF Pty. Mitte April 2021 gelang Jaffé der Verkauf von Tochtergesellschaften in Australien, Hongkong, Malaysia, Indonesien und Thailand, wodurch mehrere hundert Arbeitsplätze erhalten wurden. Ende April fand sich ein Käufer für die Wirecard-Tochter in Vietnam. Über die Verkaufspreise wurde Stillschweigen vereinbart, die Gelder fliessen letztlich den Gläubigern zu. Für die Aktionäre besteht vor diesem Hintergrund nur noch wenig Hoffnung. Die Aktie ist zum Penny-Stock geworden. Was ist und was machte Wirecard? Die Wirecard AG ist ein 1999 gegründeter börsenkotierter deutscher Zahlungsdienstleister.2018 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 2 Mrd. € und beschäftigte weltweit rund 5100 Mitarbeiter – allerdings ist aus heutiger Sicht zu bezweifeln, dass diese Geschäftszahlen der Wirklichkeit entsprachen. Von 2002 bis im Juni 2020 wurde Wirecard vom Österreicher Markus Braun geführt. Ihm gehörten bis zum 18. Juni 2020 rund 8% der Wirecard-Aktien, womit er der grösste Einzelaktionär war. Dann allerdings verkaufte er den Grossteil seiner Anteile laut Medienberichten für 155 Mio. €. Das Unternehmen bot eine Plattform an, über die Zahlungen abgewickelt werden konnten. Zu den ersten Kunden zählten Betreiber von Porno- und Glücksspiel-Websites. Besucher dieser Websites konnten mithilfe von Wirecard-Technologie kleinere Beträge online bezahlen. Später nutzten auch Grossunternehmen wie das Kreditkartenunternehmen Visa, die Fluggesellschaft KLM oder der chinesische Bezahldienst Alipay Dienste von Wirecard. Das Unternehmen war zudem in kleinerem Masse im Bankgeschäft tätig. Wie kam die Affäre ins Rollen? Erste Manipulationsvorwürfe gab es bereits im Mai 2008. Damals wurde in einem Internetforum anonym eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie publiziert, die besonders eine intransparente Information über den Geschäftsverlauf bemängelte. Im August 2018 wiederholte die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) den Vorwurf, worauf Wirecard eine Untersuchung einleitete.

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