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SPD-Parteitag: Die Prüfung des Martin Schulz

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Der SPD-Parteitag wählt Schulz erneut zum Parteichef. Und macht ihm klar, dass er es in Zukunft nicht leicht haben wird.
Vielleicht sind die drei Minuten davor die schlimmsten. Martin Schulz sitzt oben in der ersten Reihe auf der Vorstandstribüne. Vor ihm im Saal der Messe Berlin warten 600 Genossinnen und Genossen darauf, dass er spricht.
Der SPD-Vorsitzende knetet die Finger, kratzt sich am Bart, prüft den Sitz seines Krawattenknotens. Er hat sich genau überlegt, was er gleich sagen wird. 70 Seiten Manuskript hat er dabei für eine Rede, von der so vieles abhängt: eine stabile Regierung für Deutschland, die Zukunft der SPD als Volkspartei und nicht zuletzt seine eigene.
Schulz gibt sich einen Ruck, steht auf und geht die fünf Meter über die Bühne zum Pult, auf das die Parteitagsregie ein Motto geklebt hat. „Das ist unser Weg: Modern und gerecht.“ Die Frage ist nur, ob der angeschlagene Parteichef der SPD an diesem Donnerstag einen Weg weisen kann, der nicht in eine Sackgasse führt.
Jeder im Saal weiß: Der Parteivorsitzende hat eine atemberaubende Kehrtwende hinter sich. Am Tag nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen schloss er kategorisch aus, dass die Sozialdemokraten wieder in eine große Koalition eintreten könnten. Nun aber geht es genau darum, um Gespräche mit der Union über eine Regierungsbildung. Die müssen nicht auf eine große Koalition hinauslaufen, können es aber. Eine Aussicht, die viele Delegierte unten im Saal angst und bange werden lässt.
Dagegen muss der 61-Jährige nun anreden. Schulz weiß, dass fast alle linken Parteien in Europa heute auf die Entscheidung seiner SPD über die Verhandlungen mit der Union warten; die EU-Linke drängt darauf, dass die Partei Regierungsverantwortung übernimmt. Denn nur mit der SPD an der Macht, so glauben sie, lässt sich ein sozialeres Europa durchsetzen. Und Europa, das ist Schulz’ Lebensthema. Aber genügt Europa, um die SPD von einer großen Koalition zu überzeugen?
75 Minuten nimmt sich Martin Schulz Zeit. 75 Minuten, in denen er vieles zu vielem sagt. Es geht auch um die Zukunft der Arbeit im Digitalzeitalter, um einen Aufbruch in der Bildungspolitik, eben um die starken Versprechen aus dem Wahlprogramm. Außerdem hat Schulz ein ausführliches Lob für die „Me too“-Debatte im Angebot.
Je länger man dem Parteichef zuhört, umso stärker wird der Eindruck, dass es da einer sehr vielen recht machen will. Etwa mit der Erzählung über seine Begegnung mit einer alten Schildkröte aus dem Ozeaneum in Stralsund. Die Tierart ist vom Aussterben bedroht, sagt Schulz, weil Plastikmüll die Meere verschmutzt. Das wärmt das Herz der Delegierten, es gibt Applaus. Das fällt schon deshalb auf, weil der eigentlich sehr gute Rhetoriker fast 20 Minuten braucht, bis er den Saal zum ersten Mal zu längerem Beifall bewegen kann.
Dass er selbst unter Druck steht, als Vorsitzender einer Partei, der es so ergehen könnte wie den Schildkröten, – das verschweigt Schulz nicht, im Gegenteil. „Es ist nicht leicht, hier zu stehen nach so einem Jahr“, gesteht er nach wenigen Sätzen: „So ein Jahr habe ich noch nicht erlebt in meiner politischen Karriere.“
Tatsächlich haben Schulz und seine SPD eine politische Achterbahnfahrt hinter sich. Neun Monate ist es erst her, dass derselbe Martin Schulz, der am Donnerstagabend bei seiner Wiederwahl um ein achtbares Ergebnis kämpfen muss, von seiner Partei nur halbironisch als „Gottkanzler“ gefeiert wurde.
Vor wenigen Tagen hat sich der SPD-Chef das Video noch einmal angeschaut vom Höhepunkt des Schulz-Hypes. Es war am 19. März in einer alten Industriehalle in Berlin-Treptow, als auf dem Wahlparteitag sein Ergebnis von unglaublichen 100 Prozent verkündet wurde. Auf dem Mitschnitt ist zu sehen, wie er vor Rührung die Hände vorm Gesicht zusammenschlägt.
Doch danach ging es bergab: drei verlorene Landtagswahlen, schließlich das historische Desaster am 24. September im Bund.

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