Die Anhänger Erdoğans haben das Referendum laut vorläufigem Ergebnis gewonnen. In den größeren Städten gingen seine Gegner auf die Straßen. Unser Live-Blog zum Nachlesen
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat nach Angaben der Wahlkommission des Landes das umstrittene Verfassungsreferendum gewonnen. Von den 99 Prozent der ausgezählten Stimmen hatten rund 51, 4 Prozent mit “Ja” und 48, 6 Prozent mit “Nein” gestimmt. Endgültige Ergebnisse würden nach Angaben der Kommission aber erst in elf bis zwölf Tagen bekanntgegeben. Erdoğan nannte das Ergebnis eine “historische Entscheidung” und kündigte an, sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe einzusetzen.
Die Opposition will den Ausgang des Referendums anfechten. Unter anderem soll die Wahlkommission Stimmzettel zugelassen haben, die nicht
von ihr gestempelt und verifiziert worden waren. Während Unterstützer Erdoğans den Ausgang des Referendums feierten, gab es in einigen Vierteln Istanbuls Proteste. Laut Medienberichten stimmten in den drei größten Städten der Türkei – Istanbul, Izmir und Ankara – mehr Menschen mit “Nein”. In Deutschland befürworteten dagegen rund 63 Prozent der Türken die Verfassungsänderung.
Bundesregierung und EU reagierten auf das Ergebnis des Referendums mit Zurückhaltung. Mit Blick auf angebliche Unregelmäßigkeiten verwiesen sie darauf, dass auf die Bewertung der Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) abgewartet werde. Die EU teilte mit, die türkische Regierung müsse bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen “den breitestmöglichen nationalen Konsens” anstreben. Die 18 Erweiterungen zur türkischen Verfassung sollen nach der nächsten Wahl, die für 2019 angesetzt ist, in Kraft treten.
Es bleibt friedlich. Die Demonstranten haben sich zum Platz mit dem Bullen im Herzen Kadiköys zurückgezogen. Jetzt gibt es ein bisschen Musik und Motivationsreden für die verbliebenen etwa 300 Menschen.
Das war heute Nacht ein klares Lebenssignal der Opposition. Innerhalb kürzester Zeit kamen Tausende Menschen auf die Straße, lautstark und friedlich. Großes Problem ist jedoch die Zerstrittenheit der vielen Gruppen, die unterschiedliche politische Strategien verfolgen. Sie zerstreiten sich über vermeintlich Banales wie Demonstrationsrouten.
Zum Abschluss rief eine Aktivisten dazu auf, sich am nächsten Morgen ab 19 Uhr wieder in Kadiköy beim Platz mit dem Bullen zu versammeln: “Ab jetzt werden wir jeden Tag demonstrieren, bis sich ‘Nein’ durchsetzt!” Seit vielen Monaten hat Kadiköy so etwas nicht mehr erlebt. Morgen wird sich also zeigen, ob tatsächlich der Geist vom Gezi-Park erwacht.
Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Toprak, hat das Ergebnis des Referendums als “Farce” bezeichnet. Der “Huffington Post” sagte
Toprak, der nationale Wahlausschuss habe “eine Freigabe für
nicht-gestempelte Wahlzettel und nicht versiegelte Wahlurnen erteilt”.
So lange nicht explizit nachgewiesen werde, “dass diese extern
ausgefüllt oder befüllt wurden, werden sie bei der Auszählung
berücksichtigt”, kritisierte er.
Es endet nun wohl so, wie viele es befürchtet haben. Bis zu 100 Polizisten mit Tränengasgewehren stellen sich den Demonstranten in den Weg. Diese wollten zur staatlichen Wahlbehörde von Kadiköy ziehen. Einige reden beruhigend auf die Polizisten ein. Die Polizei verteilt sich im Gebiet rund um die Demo. Weder Polizei noch Demonstranten suchen die Eskalation. Es sind jetzt nur noch wenige Hundert Demonstranten übrig.
Gerade wird entschieden: Wahlbehörde oder Wohngegend? Was lauter geschrien wird, soll neues Ziel des Protestes werden. Kurz schien es so, als würde der Protest aus Angst vor der Polizei zerfallen. Außerdem streiten sich an fast jeder Ecke Oppositionsgruppen über die nächsten Schritte.
Doch auf einmal ist die Kraft wieder da, es wird laut skandiert und es sind wieder ein paar Tausend. Vielen ist die Angst anzumerken. Der letzte große Protest ist lange her. Von Gezi-Stimmung ist keine Rede, dafür ist das Selbstvertrauen zu gering. Dennoch wird hier gerade deutlich: Nach diesem Wahlsonntag ist die Türkei so gespalten wie lange nicht.
Die Demonstranten in Istanbul sind jetzt an einem Platz angekommen, an dem sich Regierungsgegner lange mehr hingetraut haben. Gerade ist keine Polizei zu sehen, aber viele Männer am Rande des Platzes, die aussehen wie Zivilpolizisten.
Aus Angst vor der Polizei hat die Demo deswegen auch lange einen Bogen um diesen Platz gemacht und sich nun kurz zuvor aufgespalten. Der Protest könnte dadurch an Kraft verlieren, dass es keine Einigkeit über das Ziel gibt: Konfrontation mit der Polizei und der nahen AKP-Zentrale? Oder lieber im sicheren, liberalen Kadiköy bleiben? Die repressive Politik Erdoğans scheint zu wirken. In den nächsten Minuten entscheidet sich, ob es das schon war mit dem Aufbegehren.
Nach dem Sieg von Präsident Erdogan beim heutigen Referendum hat die Türkische Lira (TL) ein leichtes Plus verzeichnet. Noch am Samstag lag der Tauschkurs für einen Euro bei 3, 97 TL. Am Sonntagabend stieg der Kurs nach dem Referendum auf 3, 87 TL.
Die EU-Kommission fordert die Türkei auf, bei der Verfassungsänderung den breitestmöglichen Konsens in der Bevölkerung zu suchen. Das Abstimmungsergebnis sei schließlich sehr knapp ausgefallen.
Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu haben 63 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger mit Ja gestimmt. Das entspricht 331.071 Stimmen. 194.350 Wähler (37 Prozent) stimmten demnach mit Nein ab. In der Summe ergibt das allerdings einer Wählerschaft von rund 525.000. Bisher hieß es aber, dass in Deutschland mehr als 700.000 Menschen abgestimmt haben.
Laut Wahlkommission liegt der Vorsprung des Ja-Lagers bei 1, 25 Millionen Stimmen. Kommissionschef Güven sagte, bisher seien rund 600.000 Stimmen noch nicht ausgezählt. Bis das offizielle Endergebnis vorliege, könne es bis zu elf Tage dauern. Die Entwicklungen des Abends im Video:
Was ist eure Strategie?, frage ich die Demonstranten in Kadiköy. “Glaubst du, wir haben jetzt eine Strategie?”, antwortet ein Demonstrant aus der vordersten Reihe voller Adrenalin. Mit anderen Leuten streitet er heftig, wie es weitergehen soll.
Dabei erscheint es clever, dass die Demo Straße um Straße durch die Wohngegenden zieht und damit mehr und mehr Menschen nach draußen lockt. Wohin das jetzt führen soll, weiß noch niemand. “Es wird dauern und es wird schmerzvoll”, sagt eine der vorderen Demonstrantinnen. “Hier demonstrieren wir, aber was ist mit dem Rest der Türkei?”
Die türkische Wahlkommission hat das “Ja”-Lager nach dem vorläufigen
Abstimmungsergebnis zum Sieger des Referendums über die Einführung eines
Präsidialsystems erklärt. Das teilte Kommissionschef Sadi Güven im türkischen Fernsehen mit. Genaue Zahlen nannte er nicht.
Es hat kurz gedauert, doch zumindest in Istanbul formieren sich mittlerweile immer mehr Demonstranten auf den Straßen:
Eben noch waren es einige wenige, plötzlich sind es Tausende, die sich innerhalb weniger Minuten im liberalen Istanbuler Stadtteil Kadiköy zusammengefunden haben. Sogar improvisierte Lautsprecherwagen fahren schon mit. Viele schlagen auf Töpfe und Pfannen, die sie mitgebracht haben. Mehrheitlich laufen hier junge Leute, sie rufen “Komm, komm!”, um die Bewohner des Viertels auf die Straße zu holen.
Auch in Berlin wird der Ausgang des Referendums gefeiert:
Erdoğan hat in seiner Rede auch angekündigt, was eine seiner Prioritäten ist: Die Wiedereinführung der Todesstrafe. Das werde eine seiner “ersten Aufgaben” sein, sagte Erdoğan. Wenn sich dafür keine Mehrheiten im Parlament finden ließen, müsse über Referendum nachgedacht werden.
Im liberalen Istanbuler Stadtteil Kadiköy rufen etwa 50 Demonstranten: “Es werden bessere Tage kommen! Wir werden nie still sein! Erdoğan, du wirst an die Reihe kommen!” Überall schlagen immer wieder vereinzelte Menschen mit Pfannen und Töpfen, um gegen das Ergebnis des Referendums zu protestieren. Manche schlagen mit Flaschen gegen Baustellenwände, Autos hupen aus Solidarität.
Ansonsten ist es in dem Viertel auf der asiatischen Seite Istanbuls recht ruhig, auch wenn es derzeit von Minute zu Minute mehr Menschen auf den Straßen werden. In der Bar von Can sitzen nur ein paar Freunde, auch sie schlagen gegen Gläser und Tische. “Mehr können wir erstmal nicht tun. Vielleicht kommt es ja bald zu mehr Protesten.”
Das Ergebnis steht noch nicht fest, klar ist aber, dass dieses Referendum die Spaltung der Türkei verstärken wird. Der absehbar knappe Ausgang und die schweren Manipulationsvorwürfe werden zu einer weiteren Polarisierung führen. Dass Erdoğan und Yıldırım der offiziellen Auszählung kurzerhand vorgegriffen haben, tut sein Übriges. Da hilft es wenig, dass die beiden in ihren Reden formal an den Zusammenhalt im Land appelliert habeb.
© Source: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/referendum-tuerkei-recep-tayyip-erdogan-live
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