Andrea Nahles zieht sich komplett aus der Politik zurück. Eine Entscheidung, die das Regierungsbündnis von Union und SPD zutiefst erschüttert.
Der Augenblick, an dem die vierte große Koalition der Bundesrepublik scheiterte, wird für Historiker einmal recht einfach zu bestimmen sein. Am Sonntag früh um 9.53 Uhr drückt irgendjemand in der SPD-Fraktion auf einen Sendeknopf. „EIL: Ankündigung Andrea Nahles“ steht über der Mail. Vor 13 Monaten hat Nahles als erste Frau in der langen Geschichte der Sozialdemokratie den Vorsitz der Partei übernommen.
Jetzt gibt sie auf. „Ob ich die nötige Unterstützung habe, wurde in den letzten Wochen wiederholt öffentlich in Zweifel gezogen“, schreibt Nahles. „Deshalb wollte ich Klarheit. Diese Klarheit habe ich in dieser Woche bekommen.“ Den Parteivorsitz gibt die 48-Jährige ab, den Fraktionsvorsitz, den Sitz im Bundestag. Aus, raus, bloß weg hier. Ein harter Schnitt nach brutalen Monaten, Wochen, Tagen.
Beim Koalitionspartner halten einige die Luft an. „Erst mal paar Minuten nachdenken“, bittet ein CDU-Führungsmann. Jeder weiß: Das ist nicht irgendein Rücktritt. Nahles war als Person, aber mehr noch als Verkörperung einer Haltung der stärkste Pfeiler dieses schwierigen Bündnisses. Ihr Scheitern markiert ein Ende, hinter das es kein Zurück mehr gibt.
Am Sonntagvormittag schlendern zwei Polizisten und eine Kollegin zum Eingang des Willy- Brandt-Hauses. Zwei Fahrräder stehen einsam in der Sonne. Die Digitalanzeige für die Solaranlage auf dem Dach der SPD-Zentrale meldet keine Leistung, auch das Blockheizkraftwerk liefert „0 Kilowatt“.
Ein Beamter klopft an der Pforte der SPD-Zentrale. „Ihre Vorsitzende ist ja zurückgetreten, erwarten Sie hier heute noch Größeres?“ Der Mann vom Wachdienst weiß von nichts. „Na, wenn was ist“, sagt die Polizistin, „die Nummer vom Abschnitt 53 hamse ja.“ Der Mann von der Pforte wird die Nummer später am Tag noch brauchen, wenn die SPD-Spitze zur Krisensitzung kommt.
Das alles war seit Tagen absehbar, aber es geschieht dann doch überraschend. Von denen in der ersten Reihe weiß es kaum einer. Nahles ist am Wochenende daheim in der Eifel. Sie telefoniert viel bis zuletzt. In der Nacht zum Sonntag trifft sie ihre Entscheidung. Vertraute sagen, zwei Faktoren seien ausschlaggebend gewesen. Nahles habe sich eingestehen müssen, „dass sie die Kraft nicht mehr hat“, die gespaltene SPD zu versöhnen. Und dann habe sie die Kritik an ihrer Person schwer getroffen.
Von Mobbing sprechen die, die sie mögen. „Da sind alle Schranken gefallen“, sagt einer. Bis in die Rücktrittsbotschaft klingt die Verbitterung durch: „Ich hoffe sehr, dass es euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken“, schreibt Nahles, „und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt.“
Vertrauen, Respekt – beides hat gefehlt. Das Europawahlergebnis war schlimm, die Aussichten für die kommenden Wahlen sind furchtbar, die Grünen ziehen massenhaft SPD-Wähler zu sich herüber. Alles Gründe, die Frage aufzuwerfen, ob die Personalaufstellung noch stimmt. Aber in der SPD haben sie nicht über Politik geredet, sondern das Video von Nahles’ Auftritt beim Wahlkampfabschluss in Bremen herumgezeigt: Aufgekratzt mit den Armen wedelnd bekundete die Vorsitzende dem Bremer Spitzenkandidaten Carsten Sieling: „Ich liebe auf jeden Fall Carsten!“ Peinlich. „Es geht nicht mehr mit ihr“ war ein Standardsatz der letzten Woche.
Jahrzehntelang hatte sie auf das Amt hingearbeitet, das ihr Vorgänger Franz Müntefering nur halb ironisch „das schönste neben dem Papst“ nannte. Doch ihres stand unter vielen schlechten Sternen. Die missratene Martin-Schulz-Kampagne, die quälende Zeit zwischen dem Jamaika-Aus und dem Entschluss, es doch noch mal zu versuchen – Nahles war eine von denen, die beim Sonderparteitag in Bonn den Gang in die große Koalition durchpaukten. Die Quittung bekam sie bei ihrer Wahl in Wiesbaden: Eine Unbekannte, die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, trat gegen sie an. Nahles bekam 66,3 Prozent. Es war eine Misstrauenserklärung vom ersten Tag an.
Nur wenige wissen, wie groß das private Opfer ist, das die Frau, die sie murrend gewählt hatten, ihrem Ehrgeiz und ihrem Pflichtgefühl bringt.