Neue Ära in Israel | Vorteile der deutschen Langeweile | Wichtiges Urteil.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser, heute geht es im Tagesanbruch um ein spektakuläres Bündnis und um Einheit, die nicht ohne Einfluss entsteht: Das Ende einer Ära kann von gepflegter Langeweile geprägt sein. Angela Merkel macht es vor: Nach 16 Jahren auf dem Chefsessel wird sie sich im Herbst aus Amt und Würden verabschieden, lange vorangekündigt, geplant, undramatisch. Ja, das kann man so machen. Muss man aber nicht. Warum zum Beispiel hat die Bundeskanzlerin sich nicht gesträubt und ihren Posten mit Klauen und Zähnen verteidigt? Gewiss, wir Politikjournalisten hätten ihr nahezu täglich vorgehalten, ihre Zeit sei abgelaufen und ihre Regierung verbraucht – das tun wir ja auch so schon oft genug. Die Opposition hätte gezetert und gespottet, der Koalitionspartner gegiftet. Na und? Kann man aushalten. Im Herbst hätte es an der Wahlurne für die anderen Parteien vielleicht nicht gereicht, um eine Regierung gegen Merkel und ihre CDU zu bilden – worauf sie geschäftsführend im Amt hätte bleiben können. Vielleicht hätte sich noch ein Juniorpartner für eine wackelige Minderheitsregierung gefunden. Proteststürme? Aussitzen. Keine Mehrheit? Egal. Neuwahlen, wieder ohne schlüssiges Ergebnis? Weitermachen. Vielleicht finden Sie ein solches Szenario jetzt schon absurd, dabei sind wir noch nicht einmal fertig. Stellen Sie sich vor, nach einer Serie von Neuwahlen, die keine Entscheidung gebracht haben, würde sich eine Koalition der SPD mit der AfD, den Grünen, der FDP und ja, auch noch der Linkspartei zähneknirschend zur Zusammenarbeit durchringen und endlich eine Mehrheit gegen die Kanzlerin zusammenbringen. Der Deal: Jeder bekommt ein Stück vom Kuchen. Alice Weidel hat durchgesetzt, als erste ins Kanzleramt zu ziehen, befristet auf zwei Jahre. Dann ist Annalena Baerbock dran. Nein, machen Sie sich keine Sorgen, mir hat niemand etwas in den Kaffee getan. Wir müssen lediglich ein paar Namen austauschen, um wieder auf dem Boden der Tatsachen anzukommen, und uns schnell noch in ein anderes Land versetzen: nach Israel nämlich. Dort angekommen, fügen wir der Parade der Absurditäten erst mal ein paar weitere hinzu. Premierminister Benjamin „Bibi“ Netanjahu, der fast genauso viele Jahre im Amt für sich verbuchen kann wie die Bundeskanzlerin, hangelt sich eifrig von Neuwahl zu Neuwahl, ohne eine stabile Regierungsmehrheit zustande zu bekommen. Seine Hingabe gilt jedoch nicht nur der politischen Verantwortung, sondern auch der Möglichkeit, in das Getriebe der Justiz zu greifen und den Staatsanwälten das Leben schwer zu machen. Denn der Herr Premier ist seit anderthalb Jahren der Korruption angeklagt, in einem komplizierten Prozess, der noch Jahre dauern dürfte. Eine Hexenjagd sei das, tönt der Bibi, ein Coup der Justiz gegen einen starken Premierminister. Die nationale Sicherheit sei in Gefahr. Denn ohne ihn falle Israel radikalen Palästinenser zum Opfer. Ohne ihn gehe es nicht. Alles egal, bloß weg mit Bibi: Nur diese simple Maxime hat in der zersplitterten israelischen Parteienlandschaft eine hauchdünne Mehrheit zusammengebracht, deren Schicksal an einer einzigen Stimme hängt und die letzte Ausfahrt vor der Unregierbarkeit des Landes sein soll.