Lange hat er gezögert, doch jetzt ist die Entscheidung gefallen — und die Überraschung groß: Sigmar Gabriel wird nicht Kanzlerkandidat der SPD. Ein Verzicht mit Vorgeschichte.
Jetzt ist es raus. Sigmar Gabriel wird: nicht Kanzlerkandidat der SPD. Dabei lief seit Monaten alles auf den Parteichef zu. Seine nominellen Mitbewerber, Ex-EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, betonten immer wieder, dass der Vorsitzende selbstverständlich das erste Zugriffsrecht auf die Spitzenkandidatur hätte. Auch wenn sich andere den Job durchaus zugetraut hätten — streitig machte Gabriel die Kandidatur niemand.
Doch er verzichtet. «Wenn ich jetzt antrete, würde ich scheitern und mit mir die SPD», sagte Gabriel dem «Stern». Am 24. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag — zu wenig Zeit, um die über Jahre gewachsenen Vorbehalte in der Wählerschaft abzubauen, mit denen sich Gabriel herumzuschlagen hat. Die Umfragewerte der SPD sind schlecht. Und auch Gabriels Zustimmungswerte sind — vorsichtig formuliert — ausbaufähig.
Dennoch war damit gerechnet worden, dass Gabriel die Aufgabe übernimmt. In den vergangenen Monaten schien er konsequent auf die Kandidatur zuzuarbeiten — und dafür ging er auch einige Risiken ein. Seine Ministerentscheidung zu Kaiser’s Tengelmann hätte ihn im Sommer den Job als Wirtschaftsminister kosten können. Auch setzte er gegen erhebliche Widerstände in der eigenen Partei die Zustimmung der SPD zum Freihandelsabkommen CETA durch.
Hinzu kam das Quäntchen Glück, das es ihm ermöglichte, den Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier trotz ungünstiger Mehrheitsverhältnisse zum gemeinsamen Kandidaten der Großen Koalition für das Amt des Bundespräsidenten zu nominieren. In all diesen Fällen hielt Gabriel trotz Gegenwind Kurs — und setzte damit seinem Image etwas entgegen, er sei zu sprunghaft für den Chefsessel ins Kanzleramt.
Die SPD ist hingegen eine der großen Konstanten im Leben Gabriels. In diesem Jahr feiert er sein 40-jähriges Parteijubiläum. 1977 trat er ein. Er kam nicht von den Jusos, sondern von den Falken, wo das Organisieren von Zeltlagern eine größere Rolle spielte, als das Formulieren von einwandfreien Positionspapieren.
Nicht nur in der Partei boxte Gabriel sich nach oben. Nach einer schwierigen Kindheit erwarb er als erster in seiner Familie das Abitur, studierte später in Göttingen Deutsch, Politik und Soziologie. 1990 zog er für die SPD in den niedersächsischen Landtag ein. 1998 übernahm er dort den Fraktionsvorsitz, ein Jahr später gar das Amt des Ministerpräsidenten. Doch bereits 2003 wurde er wieder abgewählt — beim bislang einzigen Wahlkampf, den Gabriel als Spitzenkandidat anführte.
Zwei Jahre später zog er in den Bundestag ein und wurde im ersten Kabinett Merkel Bundesumweltminister. Die Zwischenzeit hatte er als «Popbeauftragter» der SPD verbracht — ein Amt, das seitdem vakant zu sein scheint.
Gabriel nutzte als Mitglied der Bundesregierung seinen unbestrittenen Riecher für die Öffentlichkeit. Er inszenierte sich etwa, indem er die Patenschaft für das Berliner Eisbärenbaby Knut übernahm. Als Kanzlerin Merkel sich als Klimaretterin im roten Parka vor schmelzenden Gletschern auf Grönland fotografieren ließ, stand Umweltminister Gabriel selbstverständlich direkt hinter ihr.
Der nächste Schritt ließ nicht lange auf sich warten. Als die SPD bei der Bundestagswahl 2009 mit Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier brutal abstürzte und Parteichef Franz Müntefering abtreten musste, griff Gabriel nach dem Vorsitz. Seitdem führt er Deutschlands älteste Partei. Seit Willy Brandt hat keiner seiner Vorgänger mehr so lange auf dem Schleudersitz des SPD-Chefs durchgehalten.
In seinen ersten Jahren im Amt riss Gabriel die Partei mit, doch nachdem die Sozialdemokratie auch bei der Bundestagswahl 2013 enttäuschend abschnitt, wurde das Grummeln unter den Genossen immer lauter — auch wenn sie Gabriel murrend erneut in eine Große Koalition mit der Union folgten.
In den vergangenen vier Jahren ist diese Unzufriedenheit nur größer geworden. Zwar konnte die SPD vieles von ihren Zielen in der Koalition umsetzen, doch die Umfragewerte der Partei kleben wie festgebacken nahe der 20 Prozent. Die Erfolge der Sozialdemokraten würden nicht wahrgenommen, beklagen sie in der Partei — oder sie würden der Kanzlerin und nicht ihrem Stellvertreter und Wirtschaftsminister zugerechnet.
Hinzu kommt, dass Gabriel es sich durch seinen Führungsstil mit so manchem Genossen verscherzt hat. Viele haben ihm nicht vergessen, wie er etwa Justizminister Heiko Maas beim Thema Vorratsdatenspeicherung öffentlich vorführte. Auch in der SPD-Bundestagsfraktion kommt sein Umgang nicht uneingeschränkt gut an. Gabriel vermittle häufig den Eindruck, die Regierung spiele Champions League, die Abgeordneten jedoch nur Kreisklasse, berichten Parlamentarier. Viele vermissen Wertschätzung — und Orientierung.
In der Partei ist Gabriel dieser Wesenszug bereits einmal auf die Füße gefallen. Nachdem die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann den SPD-Chef auf dem Parteitag im Herbst 2015 deutlich kritisiert hatte, ergriff Gabriel das Wort — und faltete die junge Frau vor den Delegierten verbal zusammen.
Bei seiner Wiederwahl für den Parteivorsitz bekam er dann die Quittung: Gabriel wurde mit nur gut 75 Prozent im Amt bestätigt — ein unmissverständlicher Schuss vor den Bug. Gabriel haderte danach mit sich, ob er die Wahl überhaupt annehmen sollte. Am Ende entschloss er sich zum Weitermachen.
Gabriel ist niemand, der sich Opportunitätsgründen verstellt. Neonazis vor einer Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau nannte er unumwunden «Pack», das «eingesperrt werden muss». Als Rechtsextreme ihn bei einem anderen Termin durch Verweise auf seine Familiengeschichte provozieren wollten, überlegte Gabriel nicht lange und streckte den Pöblern seinen Mittelfinger entgegen. Es waren unbestrittene authentische Momente eines Spitzenpolitikers. Doch waren sie auch eines möglichen Bundeskanzlers angemessen?
«Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht», begründete Gabriel nun seinen Verzicht. «Schulz steht für einen Neuanfang. Und darum geht es bei der Bundestagswahl. «
Die SPD hat Angst vor einem erneuten Wahldebakel im Herbst. Im Wahlkampf will die Partei ihre Wähler vor allem durch persönliche Ansprache an die Wahlurnen bekommen. Freiwillige sollen in bestimmten Bezirken an möglichst viele Türen klopfen, um die Menschen von der Sozialdemokratie zu überzeugen. Das geht aus einer Präsentation hervor, die tagesschau.de vorliegt.
Dafür braucht es natürlich ausreichend Türklopfer. Theoretisch kommen auf ein SPD-Mitglied 140 Wählerinnen und Wähler. Das heißt: Diese Taktik kann nur aufgehen, wenn ausreichend Sozialdemokraten im Herbst ihre Freizeit für die Partei einsetzen. Mit einem Spitzenkandidaten, der die Basis nicht begeistert, ist das schwierig. Das weiß auch Politiprofi Gabriel.
© Source: http://www.tagesschau.de/inland/gabriel-portraet-101.html
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