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Große Abschiede, grantige Tribünengäste und ein neuer Wind

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Merkel auf der Tribüne, Schäubles letzte Worte, eine Nachfolgerin, die einiges ändern will. Über eine ungewöhnliche konstituierende Sitzung des 20. Bundestags.
Hubertus Heil raucht noch eine, ganz allein schreitet er an der Spree entlang. „Das erste Mal in meinem Leben bekomme ich heute eine Entlassungsurkunde“, meint der Bundesarbeitsminister. Aber er kann’s verkraften. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird ihn, wie das ganze Kabinett und Kanzlerin Angela Merkel später an dem Tag bitten, erstmal weiter geschäftsführend im Amt zu bleiben. Und bei Heil winkt als einem der wenigen aus Merkels Ministerriege die Chance auf Wiedereinstellung: Und zwar im gleichen Job, wenn es zu einer Ampel-Koalition kommen sollte. Der 48-Jährige ist schon seit 23 Jahren Mitglied des Bundestags, mit 25 Jahren zog er das erste Mal ein. Was er gerade erlebt, berührt ihn. Spontan fängt er an, von Jasmina Hostert zu erzählen, die neu in seiner SPD-Fraktion ist. Geboren 1992 in Sarajevo, wurde sie im Bosnienkrieg durch eine Granate schwer verletzt und verlor den rechten Arm, die Familie fand in Deutschland eine neue Heimat, nun ist sie Volksvertreterin u nd gehört zu 92 Abgeordneten unter 35 Jahren. „Das ist ein Modernisierungsschub für die Republik“, meint Heil. Dann muss er rein, zum Zählapell in der SPD-Bundestagsfraktion, sie hat 206 statt bisher 152 Abgeordnete. Gleich an seinem ersten Tag kommt dagegen Kevin Kühnert zu spät. Anders als Heil, der klassisch mit Anzug und Krawatte seinen Tag als einer von nun 736 Volksvertretern beginnt, kommt Kühnert im Pulli, auch modisch wird das Parlament etwas anders, etwas legerer und bunter, weniger dunkle Töne. Olaf Scholz, auch Neu-Abgeordneter, steht anfangs etwas verloren herum im Plenum, dann kommen Abgeordnete und wollen Selfies machen. Der mögliche nächste Bundeskanzler geht anschließend nicht zur FDP und Grünen rüber, sondern erstmal zur Union, redet lange mit Kanzleramtschef Helge Braun, Ralph Brinkhaus und Alexander Dobrindt. Merkel sitzt nur noch auf der Zuschauertribüne Um 10.52 kommt Angela Merkel – aber erstmals nicht mehr in den Plenarsaal. Sie erscheint auf der Zuschauertribüne, hier nimmt sie wie Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Justizministerin Christine Lambrecht Platz (SPD), beide begrüßt sie mit Corona-Faust. Sie alle sind nun nicht mehr Mitglieder des Bundestags.31 Jahre gehörte Merkel dem Parlament an, mit ihr auf der Tribüne sitzen Steinmeier, die Präsidentin der einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR, Sabine Bergmann-Pohl und die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Besonders Altmaier scheint sein Mandatsverzicht zugunsten der Jüngeren nicht zu schmerzen. Zugleich ist der Minister gerade selbst Opfer der Chipkrise, er will sich für sein neues Leben einen neuen PC bestellen, das sei gerade nicht so leicht. Da er bald, wenn die neue Regierung um Nikolaus stehen sollte, keine Chauffeure mehr hat, hat er sich auch ein Auto bestellt. Das soll im Januar eintreffen. Darf Schäuble der Alterspräsident sein? Um Punkt 11 erhebt sich das Hohe Haus zur konstituierenden Sitzung des 20. Deutschen Bundestags. Wolfgang Schäuble eröffnet als Alterspräsident die Sitzung, doch das wird erst einmal angezweifelt. Bis zum Einzug der AfD galt die Regel, dass der Alterspräsident der älteste Abgeordnete ist, das wäre mit 80 AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, Schäuble ist 79. So wurde das geändert, was aber die AfD gleich zu scharfer Kritik nutzt. Der Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann, wettert: „Alle Reichstage. Alle Bundestage, hielten sich an die Regel.“ Nur Hermann Göring nicht. „Wollen Sie sich daran orientieren?“ Sein Kollege von der Unions-Fraktion, Michael Grosse-Brömer, kontert: Wer das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte als „Fliegenschiss“ bezeichne, disqualifiziere sich von selbst. „Vogelschiss“, wird reingerufen, mit Blick auf eine Aussage von Gauland. „Vogelschiss, das macht die Sache nicht besser – aber danke für den Hinweis.“ Der Antrag wird abgeschmettert, Schäuble bleibt Alterspräsident. Die Entfremdung zwischen Union und FDP Aber Grosse-Brömer betont noch in Richtung der FDP, die mit der Union die Plätze im Plenarsaal tauschen will, um nicht mehr neben dieser AfD sitzen zu müssen, man könne hier nicht eine neue Sitzordnung mit der Brechstange durchsetzen. „Ich spüre einen Hauch von Arroganz der Macht“, meint er Blick auf die neue Ampel-Mehrheit. FDP-Chef Christian Lindner ruft mehrfach: „Wahlrecht“. Da hatte sich die Union, vor allem die CSU, allen FDP-Vorschlägen verweigert, weshalb das Parlament nun viel zu groß ist. Das wird an diesem Tag noch eine Rolle spielen, auch hier droht der Union wie bei der Sitzordnung eine Niederlage – die neuen Zeiten fühlen sich für CDU/CSU kompliziert an.

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