Der Türkei-Besuch ist für Kanzlerin Merkel ein Drahtseilakt. Die Beziehungen sind vielfach belastet, die Erwartungen der Türkei und vieler Türkei-Kritiker an Merkel hoch. Wieviel Kritik wird sie wagen, was kann sie erreichen?
Die jüngsten Festnahmen von Abgeordneten der oppositionellen HDP. Mehr als 150 inhaftierte Journalisten. Knapp 100.000 suspendierte Beamte. Dazu Vorbereitungen auf ein Referendum, das die Gewaltenteilung in der Türkei deutlich einschränken könnte. Fast täglich kommt es in dem Land zu Ereignissen, die Beleg dafür sind, dass sich die Regierung der Türkei mit großen Schritten von westlichen, demokratischen Werten verabschiedet.
Der Vorteil des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP-Regierung: All das findet inzwischen im medialen Schatten des US-Präsidenten statt. Der Besuch der Bundeskanzlerin könnte ein Schlaglicht auf Erdogans autokratischen Politikstil werfen. Vorausgesetzt, sie findet die dafür nötigen deutlichen Worte.
Auf einer Pressekonferenz mit Regierungschef Binali Yildirim hat Angela Merkel die Möglichkeit, in aller Ausführlichkeit darzulegen, was sie von dem für Anfang April geplanten Referendum zur Änderung der türkischen Verfassung hält. Für einen solch schwerwiegenden politischen Prozess müsste die Pressefreiheit in vollem Umfang gewährleistet sein, mahnen Menschenrechtsorganisationen. Der Wähler sollte die Möglichkeit haben, sich umfangreich über die geplanten Änderungen zu informieren.
Die für viereinhalb Monate wegen angeblicher Terrorpropaganda inhaftierte und Ende Dezember freigelassene Schriftstellerin Asli Erdogan stellt das im Interview mit der ARD infrage. 90 Prozent der Medien seien zum Schweigen gebracht worden, so Asli Erdogan. Was wirklich in diesem Land geschehe, bildeten nur ein paar Zeitungen ab.
Wenn man Menschen auf der Straße frage, um was es in der neuen Verfassung gehe, so die Schriftstellerin, könnten nur sehr wenige antworten. Niemand wisse, was passieren wird. Wenn der Staatspräsident etwas wolle, sage fast die Hälfte ja, unabhängig davon, was es sei.
Zumindest für einen Teil der anderen Hälfte spricht Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten im Parlament vertretenen Oppositionspartei CHP. Auch ihn soll Merkel in Ankara treffen. In einem Interview mit der « Süddeutschen Zeitung » warnte Kilicdaroglu, der türkische Staatspräsident werde den Besuch der Bundeskanzlerin den Wählern als Unterstützung für sein Referendum präsentieren, selbst wenn das nicht Merkels Absicht sei. Schon einmal – im Herbst 2015 – kritisierte die türkische Opposition Merkels Besuch in Ankara kurz vor der Parlamentswahl als Wahlkampfhilfe für Erdogan.
Merkels primäres Interesse dürfte jedoch Erdogans Einhalten des EU-Türkei Flüchtlingsabkommens sein. Immer wieder betont die Spitze der Union, dass vor allem diese Abmachung zu einem deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen geführt habe.
Im Bundestags-Wahljahr 2017 muss die Kanzlerin aus strategischen Gründen alles daran setzen, dass der Pakt bestehen bleibt. Die Opposition unterstellt ihr deshalb Erpressbarkeit. Sie drücke beide Augen zu, wenn es um Menschenrechte und die Abschaffung der Demokratie in der Türkei gehe, heißt es immer wieder von der Linkspartei und den Grünen.
Wie erpressbar die Kanzlerin tatsächlich ist, könnten zwei neue zwischen Berlin und Ankara heiß diskutierte Vorgang zeigen: Zum einen sollen nach Recherchen des ARD-Magazins Report Mainz und des « Spiegel » 40 türkische Soldaten in Deutschland Asyl beantragt haben.
Ankara bezichtigt die im Rahmen des NATO-Abkommens in Deutschland stationierten Türken der Mitgliedschaft in der Bewegung des Islampredigers Fethullah Gülen. Die türkische Regierung macht Gülen und dessen Organisation für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich. Verteidigungsminister Fikri Isik forderte, deutsche Behörden sollten die Asylanträge äußert vorsichtig bewerten und den Soldaten letztendlich kein Asyl gewähren.
Zum anderen fordert Ankara offenbar die von der deutschen Luftwaffe mit Tornadoaufklärungsjets gemachten Bilder von syrischen und irakischen Kampfgebieten. Die Tornados starten im NATO-Auftrag vom türkischen Militärflughafen Incirlik aus. Nach der Regierungslogik hat die türkische Armee folglich das Recht auf die Aufklärungsergebnisse. Falls die Bundeswehr nicht liefere, könnte die türkische Armee der Luftwaffe den dringend nötigen Bau von modernen Stellflächen für die Tornados und modernen Unterkünften für die Soldaten in Incirlik verweigern, heißt es aus Berlin.
Das Verteidigungsministerium sieht den Wunsch der Türken äußerst kritisch. Einerseits arbeitet das türkische Militär in Syrien eng mit Russland zusammen. Andererseits könnte Ankara die Aufnahmen der Luftwaffe für den Kampf gegen syrisch-kurdische Milizen nutzen. Diese sind jedoch Verbündete der von Washington angeführten Anti-IS-Allianz.
Und schließlich mahnt die Regierungspartei AKP regelmäßig Berlin, die auch in Deutschland als Terrororganisation eingestufte kurdische Arbeiterpartei PKK stärker zu bekämpfen. Der in Deutschland aufgewachsene AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu moniert, man habe beim Thema PKK keine nennenswerten Fortschritte erzielt.
Die Terrororganisation bewege sich in Deutschland in aller Freiheit, sammle Gelder und rekrutiere für den Terrorismus in der Türkei. Er erwarte, von « Freunden und Partnern über die verbalen Solidaritätsbekundungen hinaus verifizierbare Zeichen von Solidarität und enger Partnerschaft », so Yeneroglu.
Merkels Besuch soll nur wenige Stunden dauern. Wohl kaum genug Zeit, um für die zahlreichen Probleme nachhaltige Lösungen zu finden, die beide Seiten zufrieden stellen.
© Source: http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-merkel-101.html
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