Der Antrag ist da, der Brexit eingeleitet. Wie geht es jetzt weiter? Wer sitzt am Verhandlungstisch? Was kann in den kommenden 18 Monaten erreicht werden? Ein Überblick
Am kommenden Freitag will Ratspräsident Donald Tusk den 27 Staatschefs der EU einen Entwurf über die Verhandlungsgrundlinien für den Brexit vorlegen. Drei Wochen später, am 29. April, werden die Staatschefs in Brüssel zu einem Brexit-Sondertreffen zusammenkommen und die Grundlinien offiziell verabschieden. Danach erst wird die EU-Kommission vorläufig mandatiert. Sie wird die Details ihres Mandats ausarbeiten, die wiederum vom Europäischen Rat abgesegnet werden müssen. Das wird sehr wahrscheinlich beim EU-Ratsgipfel im Juni geschehen. Erst dann können die Verhandlungen mit Großbritannien wirklich beginnen. So sehen es die rechtlichen Regeln des Lissabonner Vertrages für das Prozedere der Austrittsverhandlungen vor.
Da spätestens zwei Jahre nach Auslösung des Artikels 50 die Verhandlungen beendet sein müssen, bleiben also noch rund 18 Monate Zeit, um sich zu einigen. Wenn es in diesem Zeitraum keine Einigung geben sollte, wird Großbritannien die EU ohne einen Vertrag verlassen müssen.
Brüsseler Verhandlungsführer ist Michel Barnier. Die Kommission hat ihn bestellt. Barnier hat eine lange politische Karriere hinter sich. Als ehemaliger Kommissar kennt er die EU sehr gut. Er hat den Ruf, ein umsichtiger Verhandler zu sein. Wichtig ist: Barnier verhandelt für die gesamte EU. Deswegen werden auch die beiden anderen europäischen Institutionen mitreden, der Europäische Rat und das Europäische Parlament.
Der Europäische Rat – also die Mitgliedstaaten – hat eine Brexit-Taskforce eingerichtet. Sie wird von dem ehemaligen belgischen Diplomaten Didier Seeuws geleitet. Er wird wohl eine gewichtige Rolle spielen, weil er für den Rat die Verhandlungen der Kommission begleitet, man könnte auch sagen: überwacht. Denn entscheidend ist am Ende, ob der Europäische Rat den Verhandlungsergebnissen zustimmt oder nicht. Er wird das Kapitel für Kapitel tun und mit qualifizierter Mehrheit entscheiden.
Auch das Europäische Parlament wird dabei eine Rolle spielen. Es hat den Belgier Guy Verhofstadt zu seinem «Verhandlungsführer» bestellt. Verhofstadt ist ein Integrationist. In welcher Form und mit welchem Gewicht das Parlament die Verhandlungen begleiten wird, ist noch nicht ganz klar. Sicher ist, dass es am Ende ein wichtiges Wort mitzureden haben wird. Das Parlament muss dem Trennungsvertrag zustimmen.
Selbst wenn alles einigermaßen glatt läuft, wird der Brexit i n den verbleibenden rund 18 Monaten nicht vollständig ausverhandelt werden können. Dazu sind die EU und Großbritannien allzu eng verflochten. Die Zahl der Regelungen, die geändert werden müssen, ist enorm.
Im besten Fall einigt man sich auf die wichtigsten Punkte der Trennung. Dazu gehören die Geldsumme, welche Großbritannien an die EU zahlen muss. Die Kommission sprach von rund 60 Milliarden. Dazu gehört auch der Status der rund dreieinhalb Millionen EU-Ausländer, die in Großbritannien leben, sowie der 1,2 Millionen Briten, die in der EU leben.
Für das meiste andere wird man Übergangsfristen festlegen, die sich über Jahre erstrecken werden. Es wird wohl an die zehn Jahre dauern , bis auch das letzte Band zwischen der EU und Großbritannien entflochten sein wird.
Jedes EU-Mitglied geht für Jahre im Voraus Zahlungsverpflichtungen mit der Union ein. Wenn Großbritannien die EU verlässt, muss geklärt werden, was mit seinen Verpflichtungen passiert. Es geht unter anderem um Pensionen für EU-Beamte, zugesagte Beiträge für Förderprogramme und die Haftung für gemeinsame Schulden.
Ein Beispiel: Die strukturarme Region Nordengland kann nicht erwarten, dass die EU immer noch Geld überweist, Großbritannien aber nichts mehr in den EU-Topf einzahlt. So sieht man es zumindest in Brüssel. Die Experten der EU kommen auf 60 Milliarden Euro, die Großbritannien der EU nach einem Austritt noch schuldet. Der britische Außenminister Boris Johnson hat Widerstand gegen die EU-Forderung angekündigt: Er will die Summe nicht begleichen.
Der Handel innerhalb der EU wird unter anderem durch Verordnungen geregelt. Das Dilemma für die Briten: Der größte Teil dieser Rechtsvorschriften, nämlich genau 17.105 EU-Verordnungen, hat nach dem Brexit in Großbritannien keine Gültigkeit mehr. Großbritannien muss sie überprüfen und durch nationales Recht ersetzen.
Das britische Parlament arbeitet dafür zu langsam, denn es verabschiedet im Jahr normalerweise nur 60 bis 100 Gesetze. Also muss die britische Regierung die neuen Verordnungen im Schnellverfahren erlassen. Kein leichtes Unterfangen: London bringt es derzeit im Jahr auf durchschnittlich 2.000 Verordnungen. Selbst wenn künftig doppelt so viele umgesetzt werden sollten, wird der Prozess viele Jahre dauern.
Die EU hat insgesamt 43 Freihandelsabkommen abgeschlossen. Wollen die Briten die Vorteile behalten, die daraus resultieren, und wählen sie einen harten Brexit – verlassen also auch den Binnenmarkt und die Zollunion – müssen sie alle 43 neu aushandeln. Nur so können die Briten sicherstellen, dass sie weltweit zumindest die gleichen Vorteile genießen wie als EU-Mitglied. Die Union hat mit nahezu allen europäischen Ländern außerhalb der EU, fast allen Mittelmeerstaaten und wichtigen Handelspartnern wie Südkorea und Mexiko umfangreiche Verträge geschlossen. Ein Abkommen mit Kanada wird gerade rechtskräftig.
All das hat Jahre gedauert. Deshalb will der britische Handelsminister Liam Fox am liebsten die EU-Abkommen übernehmen und lediglich die Referenz zur EU streichen. Klappt das nicht, fällt Großbritannien auf die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zurück. Das bedeutet, kurz gesagt, dass der Handel zwischen Großbritannien und der EU sowie der Handel Großbritanniens mit den anderen Staaten mit Zöllen belegt wird. Eine Sonderbehandlung einzelner Staaten ist nicht erlaubt.
Kann sich Großbritannien mit der Europäischen Union nicht auf ein neues Freihandelsabkommen einigen, gelten die Regeln der Welthandelsorganisation. Die Folge: Für jede einzelne Produktkategorie müssten Zölle erhoben werden. Ein Beispiel: Allein für Brot, Kekse und Süßigkeiten gibt es nach Angaben des britischen Industrieverbandes CBI 13.608 unterschiedliche Kategorien. Jedes Produkt muss eingestuft und mit entsprechendem Zoll belegt werden. Auf Schokolade wird ein Zoll von 38 Prozent erhoben, auf Lachs 13 Prozent, auf die Bremsen in der Automobilbranche vier Prozent. Whisky wäre dagegen zollfrei.
Noch ist nicht geregelt, welche Rechte EU-Bürger in Großbritannien haben werden. An britischen Universitäten arbeiten 31.000 Akademiker aus anderen EU-Staaten. Nach Angaben des britischen Bildungsministeriums machen EU-Bürger 23 Prozent der Akademiker in den Fächern Biologie, Mathematik und Physik aus, 14 Prozent in Medizin, 18 Prozent im Ingenieurwesen. Wer mehr als 30.000 Pfund im Jahr verdient (ungefähr 35.000 Euro), bekommt in Großbritannien als Fachkraft leicht ein Visum. Etwa 26 Prozent der EU-Akademiker verdienen aber weniger. Wer fünf Jahre im Land gelebt hat, kann eine Aufenthaltsberechtigung beantragen. Viele sind aber nicht lange genug im Land.
Wer sichergehen will, beantragt als EU-Bürger in Großbritannien möglichst rasch einen britischen Pass. Der kostet 1.236 britische Pfund und garantiert, dass man im Land leben und arbeiten kann, wann immer man will. Die Vorstufe ist die Aufenthaltsberechtigung (permanent residence). Die aber verfällt, wenn man als EU-Bürger Großbritannien mehr als zwei Jahre verlässt. In Großbritannien leben nach Angaben des Office for National Statistics 3,3 Millionen EU-Bürger, davon 297.000 Deutsche und 883.000 Polen. In der EU hingegen leben 1,2 Millionen Briten, allein in Deutschland 103.000. Großbritannien und die EU wollen den Status dieser Bürger sichern, wenn unter anderem geklärt ist, wie die Kosten für die jeweiligen Gesundheitssysteme verrechnet werden.
Großbritannien sagt, es wolle seine Grenzen wieder kontrollieren. Deshalb der Brexit, deshalb will Theresa May auch die Zollunion verlassen. Aber was passiert mit der grünen Grenze zur Republik Irland? Sie wird nicht mehr kontrolliert, dort ist es wie im Grenzland zwischen den Niederlanden und Deutschland. Jeden Monat fahren 177.000 Lastwagen über die nicht sichtbare Landesgrenze, 208.000 Lieferwagen und 1,85 Millionen Autos.
Noch immer hat die britische Regierung keine Vorstellung davon, wie das Problem gelöst werden soll. Einwanderer und Warenverkehr müssten eigentlich künftig zwischen Nordirland und der Republik Irland kontrolliert werden. Aber Grenzkontrollen darf Großbritannien zur Republik Irland nicht mehr aufbauen. Der 1998 geschlossene Friedensvertrag für Irland, das sogenannte Good Friday Agreement, legt fest, dass es zwischen beiden Teilen der Insel keine Grenzkontrollen mehr geben darf.
Kein Finanzgeschäft in der EU ohne Passporting. Bisher erlaubt das sogenannte Passporting, dass Finanzdienstleister von London aus ihre Produkte und Dienste auf dem Kontinent anbieten können. 5.500 Unternehmen nutzen das für Geschäfte in der EU. Mit dem Brexit wäre das nicht mehr möglich. Andersherum können 8.800 EU-Firmen Finanzgeschäfte in Großbritannien nicht mehr so einfach betreiben. Theoretisch gibt es einen Ausweg: Großbritannien müsste die gleichen Vorschriften wie die EU einhalten. Das werden die Briten aber nicht wollen. Niemand in der City, dem Bankenviertel von London, weiß, ob die britische Regierung mit der Europäischen Union eine Ersatzregelung aushandeln wird. Die meisten Unternehmen warten ab, einige Finanzinstitute suchen aber schon Standorte in der EU.
Mehr als 1,6 Millionen Schotten haben dafür gestimmt, in der Europäischen Union zu bleiben. Das waren 62 Prozent der abgegebenen Stimmen in Schottland. Seit Monaten wächst der schottische Widerstand gegen den Brexit. Die Schotten profitieren von der EU, haben historisch engeren Kontakt zum Kontinent und leiden zunehmend unter der Bevormundung durch London. Sie hätten gern eine Sonderregelung, die es ermöglicht, unabhängig von Großbritannien im Europäischen Wirtschaftsraum zu bleiben. Aber das wird nicht klappen, das sagt auch die EU. Zuerst müsste Schottland mit Großbritannien die EU verlassen und dann einen Antrag zur Aufnahme in die EU stellen. Zwar hat Nicola Sturgeon eine zweite Volksabstimmung zur schottischen Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Aber die erlaubt die britische Regierung vorerst nicht.
© Source: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/europaeische-union-brexit-bruessel-lissabonner-vertrag-verhandlungen
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